Ein Pionier des sozialen Wohnungsbaus in Stuttgart

Zum 100. Todestag von Eduard Pfeiffer

Es gibt viele Zeugnisse in Stuttgart vom Wirken des Sozialreformers und Ehrenbürgers Eduard Pfeiffer (1835 – 1921), doch bestenfalls stadtgeschichtlich Interessierte wissen, dass Pfeiffer der Pionier des sozialen Wohnungsbaus und der Genossenschaftsbewegung in Stuttgart war. Ihm sind nicht nur große Wohnquartiere, sondern ein ganzer Stadtteil zu verdanken.

Eine so vielschichtige Biografie wie die von Eduard Pfeiffer ist heute kaum denkbar. Er war Schriftsteller, Vereins- sowie Parteigründer und Landtagsabgeordneter, Bankier, Organisator der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung, Altstadtsanierer und Stadtentwickler sowie Ehrenbürger von Stuttgart und vieles mehr. Vor allem war er ein weitsichtiger, durch viele Studien und Reisen gebildeter Mensch, der sozialreformerisch anpackte.

Dies war ihm nicht unbedingt als 13. und damit jüngstes Kind des Hofbankdirektors Max Pfeiffer und seiner Mutter Pauline Wittersheim in die Wiege gelegt, als er am 24. November 1835 zur Welt kam. Doch dank seines finanziellen Polsters konnte er – damals noch ungewöhnlich – seinen Abschluss als Diplom-Ingenieur in der Fachrichtung Chemie in Paris machen und ein weiteres Studium in Leipzig, Heidelberg und Berlin in der Fachrichtung Wirtschafts- und Finanzwissenschaften abschließen. Dazu kamen etliche Bildungsreisen nach Frankreich, Italien und England, wo er 1862 die Weltausstellung in London besuchte. Im selben Jahr ließ er sich wieder in Stuttgart nieder. Doch die Begegnungen mit der englischen Genossenschaftsbewegung beschäftigten ihn weiter. Eindrücke, die ihn prägten und zu seinem späteren sozialen und politischen Engagement führten. 1869 nahm er sogar an der Gründung des englischen Genossenschaftsverbandes teil.

Aufgrund seiner finanziellen Unabhängigkeit konnte Pfeiffer als freier Schriftsteller arbeiten. 1863 erschien sein erstes Buch „Über Genossenschaftswesen“, das manche sogar für das bedeutendste Werk seiner bis 1867 veröffentlichten vier volkswirtschaftlichen Schriften halten. Darin legt er die Notwendigkeit von sozialen  Reformen für die Arbeiterschaft dar, stellt seine gesellschaftspolitischen Ziele für die damals viel diskutierte soziale Frage vor und nimmt quasi sein praktisches Handeln vorweg.

„Merkt es Euch, Ihr Mächtigen und Reichen, die Ihr behaglich, ohne Euch um das Loos derer zu bekümmern, durch die allein der ganze Comfort, der Euch umgiebt, geschaffen wurde! Ihr, die Ihr ohne Teilnahme seid für die Leiden, denen Ihr selbst nicht ausgesetzt seid, laßt Euch die Warnungen des Jahres 1848 nicht umsonst gegeben sein.“

Die Industrialisierung bringt die Wohnungsnot

Ebenfalls 1863 gründet Eduard Pfeiffer den Consum- und Ersparnisverein, der zum Modell für die meisten Konsumgenossenschaften in Deutschland wird. Ein Jahr später trat er in den Arbeiterbildungsverein ein, dessen Hauptkassier er wiederum ein Jahr später wird und dies auch für die nächsten 37 Jahre bleibt, sowie insgesamt dessen Förderer. Die Ziele waren „die geistige und materielle Hebung des Arbeiterstandes“. 1865 wird auf seine Anregung vom Arbeiterbildungs- und Gewerbeverein die erste, nicht kommerzielle Arbeitsvermittlung geschaffen.

 

Eines seiner nachhaltigsten Engagements wird 1866 die Gründung des Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, dem heutigen Bau- und WohnungsVerein Stuttgart. Grundgedanke war, „daß mit der Zunahme der industriellen Bevölkerung die Verbesserung der Zustände, unter welchen dieselbe lebt, eine Forderung des allgemeinen Wohls geworden ist“. Parallel entsteht als Tochterunternehmen der Verein zur Fürsorge für Fabrikarbeiterinnen, der unter anderem Unterkünfte für Arbeiterinnen zur Verfügung stellt.

 

Pfeiffer wollte, dass alle gesellschaftlichen Gruppen an einem Strang ziehen und damit die Arbeiterschaft einbeziehen, um so den Erweis zu bringen, „dass ein Widerstreit der Interessen zwischen den Arbeitern und der sogenannten Besitzenden Klasse gar nicht besteht“. Als Zweck des Vereins nannte er die „Förderung der Interessen und Hebung der sittlichen und wirtschaftlichen Zustände der arbeitenden Klassen“. Auch wenn es heute so klingt, waren sozialdemokratische Bestrebungen nicht das Ziel von Pfeiffer und seinen Mitstreitern, sondern das Gegenteil. Er wollte der Arbeiterschaft durch lebensverbessernde Einrichtungen eine neue Perspektive geben. Gemäß seiner 1863 formulierten Vorstellungen war dies zuerst der Bau eines Hauses für den Arbeiterbildungsverein und daneben eine Wasch- und Badeanstalt. Bemerkenswert ist, dass neben vielen wohlhabenden Stuttgartern auch der König selber im Jahr 1866 zu den 111 Mitgliedern des Vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen gehörte.

Politisches Engagement und Abkehr von Börsenspekulanten

Die Zeiten verlangten ein politisches Engagement, um gesellschaftspolitische Ziele durchzusetzen. Daher gründet Pfeiffer ebenfalls 1866 zusammen mit Gustav Siegle, Kilian Steiner und Julius Hölder die nationalliberale „Deutsche Partei“, die das Ziel eines von Preußen geführten Nationalstaats verfolgt. 1868 wird er als erster jüdischer Bürger in die Zweite Kammer des Württembergischen Landtags gewählt, was bis dahin verboten war. Hervorgehoben wird in den damaligen Zeitungen sein rednerisches Talent. Aus der Politik zieht er sich nach einer Wahlniederlage 1877 zum Reichstag wieder zurück und konzentriert sich auf seine hauptberuflichen und sozialen Projekte.

 

Wolfgang Schmierer, Historiker und leitender Archivdirektor des Hauptstaatsarchivs Stuttgart, mutmaßte hinter dem Rückzug aus der Politik auch eine „verborgene Tragik“ von Pfeiffer: Hätte er die Kandidatur für den Reichstag 1877 zum Erfolg geführt, wäre dies nur über den Preis gegangen, sich taufen zu lassen. Ein für Pfeiffer wie für viele liberale jüdische Bürger ein zu hoher Preis. Denn „das deutsche Judentum war zwar im Zuge der Industrialisierung bürgerlich gleichberechtigt geworden, es blieb aber in Politik, Verwaltung und Offizierskorps benachteiligt“.

 

Hauptberuflich ist die 1869 von Pfeiffer mitgegründete Württembergische Vereinsbank zu nennen, die wiederum im selben Jahr an der Gründung der Deutschen Bank beteiligt war. Pfeiffer war zwar im gebräuchlichen Sinn ein Kapitalist, aber kein gewissenloser, geldgieriger Ausbeuter, sondern seiner sozialen Verantwortung als Kapitaleigner bewusst. Nach seinem Börsenbesuch in Wien 1869 notiert er: „Welche Verkehrung aller Begriffe von sittlicher Arbeitsamkeit und rechtlichem Erwerb!“ Und die riesigen Aktiengewinne eines einzigen Tages kommentierte Pfeiffer mit: „Wieviel Elend und Not könnte mit einer solchen Summe gehoben werden? Wie vielen redlichen und fleißigen Arbeitern könnte damit die Grundlage gegeben werden zu einer selbständigen besseren Existenz…?“ Und er prangert an, dass „in mühelosem Spiel an einem Tage die größten Reichtümer zusammengehäuft“ werden, und man sich dann wundere, „daß eine soziale Frage besteht, daß man es da und dort schmerzlich empfindet, daß eine gesellschaftliche Ordnung nicht gesund ist, wo so grell die Gegensätze nebeneinander bestehen…“

 

Solche Äußerungen untermauern, dass sein Herz den zahlreichen sozialpolitischen Projekten gehörte, die von seiner Frau Julie Benary, die er 1872 heiratete, unterstützt wurden. Sie mehrte nicht zuletzt das Kapital für die folgenden Sozialprojekte, die der allgemeinen Gesundheit durch sanitäre Einrichtungen und dem sozialen Wohnungsbau verpflichtet waren. Das Ziel war, die Kluft zwischen arm und reich zu überwinden, die sich durch die Industrialisierung verstärkt hatte. Auch Stuttgart verzeichnete einen kräftigen Bevölkerungszuwachs und entwickelte sich von einer Residenz- zu einer Industriestadt. Von 1870 bis 1905 erhöhte sich die Einwohnerzahl von 90.000 auf 250.000 Menschen. Damit wurde bezahlbarer Wohnraum schon damals zu einem der drängendsten Probleme.

 

1870 initiierte Pfeiffer den Bau der Stuttgarter Waschanstalt zur Förderung der Volkshygiene, 1874 gründete er die Stuttgarter Volksküche, die täglich rund 300 Mahlzeiten ausgibt. Ab 1876 bis zu seinem Tod wurde er zum Vorsitzenden des Vereins für das Wohl der arbeitenden Klasse wiedergewählt. König Karl von Württemberg verlieh ihm 1883 den Titel eines Geheimen Hofrats. Aus heutiger Sicht ist dies deswegen bemerkenswert, weil das Engagement für die Arbeiterschaft im Bürgertum und in den adligen Kreisen durchaus kritisch gesehen wurde.

Vom Arbeiterheim zum Landtagsgebäude

Städtebaulich tätig wurde Pfeiffer 1887 auf einem eigenen Grundstück mit den Planungen für ein Arbeiterheim in der Heusteigstraße 45 (heute der „Alte Landtag“), das 1890 durch die Stiftung Arbeiterheim einschließlich eines großen Saales mit 1.200 Sitzplätzen für Versammlungen fertiggestellt und dem Arbeiterbildungsverein zur Verfügung gestellt wurde. Pfeiffer war überzeugt, durch das Wohnheim und die Räume für Unterricht, belehrende Vorträge und Unterhaltung die jungen Leute von häufigen Besuchen der Wirtshäuser abhalten zu können. Im Februar 1891 wird wenige Monate nach dem Erstbezug berichtet, dass das Haus vollständig belegt ist. In 125 Zimmern beherbergt es 215 Bewohner. Und das Arbeiterwohnheim überstand auch den 1. Weltkrieg.

 

Was Pfeiffer nicht ahnen konnte, waren die in den kommenden Jahren nach seinem Tod anstehenden Umwälzungen. 1944 wurden das Gebäude und die Einrichtungen durch NSDAP-Organisationen beschlagnahmt und die Stiftung Arbeiterheim wegen Wegfalls des Stiftungszwecks steuerpflichtig. Zum Ende des Krieges zog die Geheime Staatspolizei (Gestapo) in der Heusteigstraße ein, weil der vorherige Standort, das Hotel Silber, zerstört war.

 

Eine rühmliche Wiederauferstehung erfuhr das Gebäude in der Heusteigstraße, weil es fast unversehrt den Zweiten Weltkrieg überstanden hatte. Im Gegensatz zur restlichen Stadt, die bei Luftangriffen zu 80% zerstört wurde. Da bot sich der Saal des Arbeiterheims als günstige Mietunterkunft an, um einen politischen Neubeginn zu wagen. Am 18. Juli 1947 eröffnete Landtagspräsident Wilhelm Keil die 35. Plenarsitzung des ersten Württembergisch-Badischen Landtags in der Heusteigstraße 45. Bis 1961 diente das Haus den Landtagen von Württemberg-Baden und Baden-Württemberg als Tagungsstätte. „Hier wurden nicht nur Gesetze gemacht, sondern auch die Geburtswehen der Verfassung für Baden-Württemberg durchgestanden“, betonte Landtagspräsident Erich Schneider im November 1986 anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten Saales.

 

Seit September 1990 ist das Gebäude in der Heusteigstraße 45 in die Liste der Kulturdenkmale der Landeshauptstadt Stuttgart eingetragen. Bis März 2008 blieb das sogenannte Eduard-Pfeiffer-Haus ein gemischtes Wohnheim, aber im baulichen Standard von 1961. Dann wurde es grundlegend durch den Bau- und Wohnungsverein Stuttgart saniert und damit die Gründeridee vom Wohnen auf Zeit neu interpretiert. Statt schlichter Wohnzellen entstanden moderne Apartments mit Kochnische und Badezimmer. Die Nachfrage ist heute mindestens so hoch wie zur Entstehungszeit.

Pfeiffer gründete drei Stuttgarter Siedlungen

Der Verein zum Wohl der arbeitenden Klassen blieb die Basis für die weiteren Bauprojekte. Schon im Jahr nach der Fertigstellung des Arbeiterheims, begann Pfeiffer 1891 durch den Verein mit dem Bau der Kolonie Ostheim auf einem 12 Hektar großen Gelände, das heute im Zentrum des Stadtbezirks Stuttgart-Ost liegt. Es folgten von 1901 bis 1904 die Siedlung Südheim in Heslach und die Siedlung Westheim an der Beethovenstraße in Botnang. Zu ihrer Gründung alles noch ziemlich weiße Flecken auf Stuttgarter Gemarkung. Insgesamt entstanden 1267 Wohneinheiten.

 

Die Siedlung Ostheim zwischen Haußmannstraße und Rotenbergstraße erinnert architektonisch mit ihren Erkern und Giebeln an kleine Kopien von Gründerzeitvillen und kommt damit dem Ideal einer bürgerlichen Architektur für Arbeiterhaushalte am nächsten. Doch Pfeiffer ging es nicht nur um den dringend notwendigen Wohnraum durch das Wachstum der Stadt, sondern um eine hohe Identifikation mit dem neuen Stadtquartier durch eine ansprechende Architektur. Damit hat er eine moderne und vorausschauende Stadtplanung betrieben.

 

Ostheim wurde die größte der drei Siedlungen. Sie ist trotz der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen bis heute originalgetreu erhalten geblieben. Der Bau- und WohnungsVerein (BWV) hat seinen Firmensitz in der ehemaligen Kinderkrippe von Ostheim. Viele historische Gebäude konnte der BWV zurückkaufen, hat sie saniert und damit den alten Ostheimer Charme erhalten. Die Wohnungen sind aufgrund der günstigen Mieten, der einzigartigen Architektur und der guten Infrastruktur immer noch sehr beliebt.

 

In seinem Buch „Eigenes Heim und billige Wohnungen“ berichtet Pfeiffer über die Intension der Kolonie Ostheim: Keine Mietskasernen sollten entstehen, sondern Wohnungen in aufgelockerter Siedlungsbauweise, die nach und nach in das Eigentum der Mieter übergehen und vor Spekulation durch entsprechende Verträge wie dem Rückkaufsrecht geschützt würden. Letztlich gehen neuere Modelle wie das Bauspar-, Mietkauf- oder Heimstättensystem alle auf dieses Grundmodell von Pfeiffer zurück.

Großprojekt: Sanierung der Stuttgarter Altstadt

Pfeiffer will noch ein weiteres Wohnungsproblem lösen. Wie in anderen Großstädten, sind durch die Industrialisierung die Wohnverhältnisse in der Stuttgarter Altstadt katastrophal. Die Bausubstanz ist schlecht und die Brandgefahr hoch. Es fehlt zudem an Tageslicht, Kanalisation und sanitären Einrichtungen. Da die Stadtverwaltung nicht tätig wird, arbeitet Pfeiffer seit 1903 an Plänen zur Altstadtsanierung. Der Verein zum Wohl der arbeitenden Klassen übernimmt das unternehmerische Risiko und erwirbt sukzessive zahlreiche Häuser in der Altstadt. 1906 beginnt die Altstadtsanierung, um die schlechten Wohnverhältnisse zu verbessern. Baufällige Häuser werden abgerissen, neue entstehen samt breiteren Straßen mit Plätzen rund um den Hans-im-Glück Brunnen.

Pfeiffers Visionen wirken nach

Erst nach seinem Tod wurde ersichtlich, in welchem Umfang Eduard Pfeiffer nicht nur durch seinen persönlichen Einsatz, sondern auch durch sein Vermögen die soziale Stadtentwicklung befördert hat. Das kinderlose Ehepaar rief 1917 die Eduard-Pfeiffer-Stiftung ins Leben. Die Stiftung verfügte anfangs über ein beachtliches Vermögen, das jedoch durch Hyperinflation und in der NS-Diktatur nahezu vollständig verloren ging. Heute besitzt die Stiftung über rund 200 Wohneinheiten im Stitzenburgviertel. Die Erträge werden weiterhin im Sinne Eduard Pfeiffers für wohltätige und gemeinnützige Zwecke eingesetzt. Pfeiffer wurde gemäß seines Willens 1921 in aller Stille auf dem Pragfriedhof beerdigt.

 

Ihm zu Ehren wurde im Zentrum der ehemaligen Siedlung Ostheim der Teckplatz in Eduard-Pfeiffer-Platz umbenannt. Der Verein Pro Stuttgart erinnert in Rundgängen an die Ursprünge der Siedlung und damit an Eduard Pfeiffer, ebenso wie die Stiftung Geissstraße Sieben. Fast ironisch mutet es heute an, dass bereits 1919 die Höhenstraße am Kriegsberg, mittlerweile eine der schönsten Villenlagen von Stuttgart, nach ihm benannt wurde. Er hätte sich sicher eine Straße mit seinem Namen in Ostheim gewünscht.